Ausgangssperre in Niedersachswerfen anno 1982

  • Ausgangssperre in Niedersachswerfen anno 1982

    Stellt Euch folgendes Szenario vor: Samstagnachmittag im November 1982

    In der Sowjetunion liegt der 75-jährige Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) Leonid Breshnew im Sterben (… und stirbt auch am 10.11.1982). Diese führungsschwache Zeit im kommunistischen Block nutzen die bösen Imperialisten zur massiven Drohung mit der Neutronenbombe, was sich bis in die kleinste Provinz der DDR hinein spüren lässt. Die Straßen sind wegen einer Ernstfallübung menschenleer. Nur einige Hunde bellen hinter dem Hoftor. Durch Niedersachswerfen am Harzrand rattert ein Zug der Harzquerbahn, damit er ggf. noch in Nordhausen abgestellt werden kann. Patrouliert wird er von einem Lkw der Sowjetarmee auf der parallel verlaufenden Fernverkehrsstraße Nr.4 (F 4). Sonst ist kein Mensch zu sehen, denn alle harren auf Anweisung der „Zivilverteidigung (ZV)“ in Kellern und Bunkern und lauschen den Nachrichten...

    Ich hoffe, dass ich jetzt niemanden er- oder verschreckt habe.
    Zum Glück fand diese Apokalypse nie statt, aber das Bild vom Samstag, dem 06.11.1982 mit dem P 14407 bei der Durchfahrt in Niedersachswerfen parallel zur menschen- und autoleeren, mit Granitsteinen gepflasterten F 4 ist schon ziemlich bizarr. Man stelle sich diesen Ort heute vor – ohne ständigen Autoverkehr undenkbar.
    Beim genauen Hinsehen erkennt man auch, dass sich der Sowjetsoldat auf der Beifahrerseite mit dem kompletten Oberkörper aus dem herunter gelassenen Fenster lehnt und „surfend“ den Zug betrachtet.

    Das nächste Bild zeigt den Zug in wesentlich angenehmerer Umgebung kurz vorher am Ortseingang von Niedersachswerfen (NSW) beim Passieren einer Streuobstwiese.

    Viel Spaß beim Betrachten dieser Bilder aus den Zeiten der Hochrüstung und des kalten Krieges wünscht aus dem Mansfelder Land

    Eine Ecke vom Gleisdreieck

  • Da kann ich mich auch noch an solche Übungen erinnern.
    An diesen Orten durften wir nicht halten und sind Durchgefahren.
    Den größten Lachanfall habe ich dabei mal in Benneckenstein bekommen. Auch solch eine Zivilschutzübung und die Anweisung zum Durchfahren. Ich komme mit meinen Zug von Wernigerode nach Nordhausen dort angefahren und da steht der Fahrdienstleiter (Spitzname "Grüner Vogel") auf dem Bahnsteig in nähe der Schrankenwinde mit Vollschutz darauf die rote Mütze und in der Hand den Befehlsstab zum ZP 9 den Duchfahrauftrag erhoben.
    Wir haben uns gekugelt vor lachen.
    Für die, die Vollschutz nicht kennen. Das war ein Atomschutzplane zum Anzug angezogen mit Gasmaske und Filtertasche. Also total in Gummi eingewickelt und angezogen.

    Ansonsten war in diesen Orten das normale Leben eingefroren. Da habe ich schon gar nicht mehr dran gedacht. Was du so alles hervorzauberst. Da werden Erinnerungen wieder wach.

    Wieso hat man dich da eigentlich durchgelassen, war doch alles abgesperrt?

    Also GleisdreieckThomas da warte ich gerne auf weitere Raritäten von Dir.

    Gruß von ganz oben, der Bergmensch. 🙋‍♂️

    2 Mal editiert, zuletzt von Bergmensch (22. Januar 2011 um 17:45)

  • Das ist jetzt etwas makaber, aber ich habe da kein schlechtes Gewissen...

    Zitat

    (… und stirbt auch am 10.11.1982

    Dafür bin ich ihm heute noch dankbar, ermöglichte er es dadurch doch, dass während der beschissenen 3 monatigen Reservistenzeit bei der Nationalen Volksarmeee ein Tag mal Ruhe vor den Pickelträgern war, weil wir alle so traurig waren.
    Leider fiel aber das geplante Konzert in der Kaserne mit Ute Freudenberg auch aus.....
    cu
    Hans-Jürgen

  • Hallo Reiner,

    bei uns gab es für den Vollschutz den Begriff "Fromms"
    ( nach einer bekannten Kondommarke ).

    Kanntest Du diese Bezeichnung auch ??

    Aber recht hast Du; der Befehl Vollschutz war immer Horror, besonders dann, wenn ich als Sani, dann noch am transportieren (schleppen) von "Verwundeten" beteiligt war.

    Nie wieder !!!

    Gruß aus Dresden,

    Ralf

  • Hallo!

    Danke für die schönen Bilder aus dem Südharz!

    Ein toller Vergleich in Niedersachswerfen!
    Und das Szenario mit dem Russen LKW (ein Zil?) läßt ebenfalls wieder die Erinnerungen an die Kindheit wach werden.
    Die Freunde waren häufig zu Gast auf den Straßen im Südharz.
    In Hasselfelde gab es eine Radarstation der Sowjetarmee. (Heute befindet sich dort Pullmann City-Harz)
    Mitten im Wald beim Forsthaus Karlshaus nahe Sophienhof/Trautenstein war auch eine Garnision stationiert.
    Dort findet man heute nur noch ein paar Fundamente und Erdhügel. Dort soll tatsächlich hochbrisantes Waffenmaterial in unterirdischen Bunkern stationiert gewesen sein.

    In dieser Zeit ist auf der F 4 vor Ilfeld einmal ein russischer LKW von der Straße abgekommen und im Graben zwischen Straße und Harzquerbahnstrecke gelandet und hat dabei noch einen Masten umrasiert.
    Im Ort erzählte man sich dann tagelang, das die vorgesetzten Russen den Fahrer (besoffen?) welcher stiften gegangen war, erschossen haben sollen. Das flößte uns damals als Kinder ganz schön Respekt ein.

    Sorry, das ich jetzt gleich wieder so abschweifen muss, aber die Aussage das der Beifahrer aus seinem Fenster sürfend den Zug beobachtete, bekräftigt den Verdacht, oder das Gerücht, welches damals landläufig verbreitet war, das die Freunde ständig unter "Strom" gestanden haben sollen.

    Hast Du noch mehr so interessantes Material aus dieser Zeit von der Harzquerbahn im Südharz?

    Gruss Thomas

  • Hallo Gleisdreieck,

    also, das erstaunt mich nun aber doch! Ist dieses Bild wirklich bei so einer Übung entstanden? Dann wundert es mich wirklich, das Du da von den "Freunden" nicht umgehend verhaftet worden bist! Oder hattest Du da einen "Sonderstatus", sprich Genehmigung? Ich hätte mich nicht getraut, einen Patroullien-LKW der Sowjetarmee, auf mich zufahrend während einer Katastrophenschutzübung abzulichten!

    Um so wertvoller dieses Bild, Dampfeisenbahn mit Roter Armee auf einem Bild!
    Ein brisantes Thema damals.

    Der Wurzener! :wink:

  • Hallo Thomas,

    das sind sehr schöne Fotos! Herzlichen Dank für das Zeigen und die Informationen hierzu.

    Aus den Tagen vor der Wende gibt es ja einige Bilder von dieser Stelle wo in Niedersachswerfen wirklich nicht viel los war im Gegensatz zu heute. Im ersten Augenblick dachte ich mir bei den Hinweis auf die Zivilverteidigung Du würdest uns versuchen einen Bären aufzubinden. Dann bestätigte Reiner solche Übungen im Grenzgebiet generell (dem ich im übrigen so manchen Scherz zu traue).

    Da wird mir wieder bewusst wie unterschiedlich BRD und DDR waren. Ich bin 41 Jahre alt und im Westen aufgewachsen. Ich versuche mir gerade vorzustellen, was im Westen los gewesen wäre, hätte die Bundesregierung oder eine Militärverwaltung wie die NATO eine solche Aktion z.B. in Hohegeiß gegenüber von Benneckenstein versucht durchzusetzen. Da habe ich Bilder von Wackersdorf, Brokdorf und anderen Orten vor Augen, wo es massive Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten vor Augen als es um Kernkraftanlagen ging.

    Viele Grüße

    Volker

    2 Mal editiert, zuletzt von Volker Dehnke (23. Januar 2011 um 11:09)

  • Hallo Dieselkutscher,

    hab ich doch gelesen, aber auch wenn der Beifahrer den Zug beobachtet, der Fahrer schaut doch automatisch in Richtung des Fotografen. (falls dieser nicht getarnt war) :confused:

    Grüße, der Wurzener! :wink: